Donnerstag, 23. April 2020

Kapitel 152 - Vom Vernähen

Seit ich stricke, begegnet mir ein Thema in der Strickwelt immer wieder: das Vernähen der Fäden. Es gibt kaum einen ernstzunehmenden Strickblogger, -podcaster oder -designer, der nicht ausführlich und immer wieder davon berichtet, wie sehr er oder sie es HASST Fäden zu vernähen.
Dieses Gefühl ist so stark, dass sogar verschiedene Rubriken erfunden werden, in denen man Fäden zählt und darüber jammert, in denen man sich mit Grausen abwendet, wenn man ein Strickstück auf links dreht, kurz, in dem man sowohl in Worten wie auch in zahlreichen  Gesten kundtut, dass man sich hier einer Materie nähert, die einfach nur das Letzte vom Letzten ist.

Das führt dann soweit, dass man sich nie, nie, nie überlegen würde, seine Reste z.B. für eine hübsche Decke zu verbrauchen, weil ja vor dem Ergebnis dies hier stünde:



Tatsächlich habe ich noch nie auch nur einen gesehen, der hier einen etwas entspannteren Umgang mit dem Thema an den Tag gelegt hätte. 

Nein, das ist nicht richtig, einen gibt es schon, und zwar Debbie Stoller, die in einem ihrer Stitch'n'Bitch-Bücher sogar davon gesprochen hat, dass sie diese letzte Phase eins Strickstücks sogar besonders liebe. Etwas fertigmachen, etwas hübsch machen und damit also eigentlich zur endgültigen Bestimmung führen.

Aber die meisten, denen ich so begegne - im Moment natürlich nur online - sind sich da einig, Fäden sind das Grauenhafteste, was man sich nur vorstellen kann und überhaupt völlig abzulehnen.
Und dazu wollte ich eigentlich schon immer mal zwei Sachen sagen, die mir selbst über die Jahre (und die vielen Decken) geholfen haben.

Erstens: man muss sich mal das Verhältnis ansehen. Wie lange strickt man einem Stück und wie lange dauert es, bis alle Fäden vernäht sind? Das steht in keinem Verhältnis!

Wenn ich an einer Decke wie der obigen viele Tage häkle und einfach nur meine Fleckerl sammle, dann habe ich am Ende 35 große Vierecke mit jeweils 12 Fäden zu vernähen. Manchmal sind es auch mehr, es sind ja Restedecken und manche Reste reichen nicht für die Rundenzahl, die dafür vorgesehen ist, dann muss man anstückeln. Aber: das ist erledigt an zwei, höchstens drei Abenden. Gemütlich vorm Fernseher oder Podcast. Einfach ein Faden nach dem anderen. Das Häkelvergnügen selbst hat viele Abende länger gedauert, da sind die paar Stunden im Verhältnis nichts und vergehen bei guter Unterhaltung sowieso schnell.

Zweitens: und deswegen wundert mich das Thema eigentlich so. Da muss man auch einfach mal seine großen Hosen anziehen: put your grown-up pants on, wie die Amerikaner sagen.

Es ist doch ganz einfach - entweder ich will eine große Restedecke, einen Fairisle-Pullover, ein Intarsienkunstwerk oder eben nicht. Und wenn ich das will, dann gibt es halt auch Fäden zu vernähen und dann muss ich damit leben. Aber das eine wollen und über das andere jammern, das geht mir nicht in den Kopf.

Und mal ganz ehrlich, in der Zeit, in der ich über die Fädenvernäherei jammere, da habe ich doch schon wieder einen vernäht.

Man kann natürlich auch vorbeugen und immer wieder einen Zwischenvernähtermin einschalten, dann werden die Stapel nicht so deutlich wie bei mir:



Aber das ist natürlich auch eine Typfrage. Ich selbst bin beim Stricken oder Häkeln immer so im Flow, dass ich ungern die Nadel aus der Hand lege, um dann nur ein einziges Stück zu vernähen. Ich bin eher für die Blockabfertigung. Aber wenn man anders drauf ist, dann kann das auch helfen. Lucy von Attic24 z.B. empfiehlt dringend, bei vielfarbigen Motiven, alles gleich zu vernähen.
Zu meiner Theorie über das Zeitverhältnis verweise ich mal kurz über ein neueres Video von Arne&Carlos. Arne häkelt in Echtzeit eine Häkelblume und vernäht dann die Enden. Die Blume dauert 23 Minuten, das Vernähen ganze 3 Minuten.

Also nicht verzagen, immer das Verhältnis im Kopf haben und mutig voran - es dauert ehrlich nur einen Bruchteil der Arbeitszeit vorher. Und ganz aktuell natürlich, wann, wenn nicht jetzt ist der ideale Zeitpunkt dafür? Viel Spaß!