Nach vielen Jahren unermüdlichen Einsatzes ist es mir in diesem Winter gelungen: ich habe einen Stricker erschaffen.
Sie ist 13 Jahre alt und hat sich beim letzten Weihnachtsfest sehr über Wollgeschenke gefreut, und zwar in unverstricktem Zustand. Es gab ein paar Stränge handgefärbtes Garn, ein bisschen Flausch und Sockenwolle.
Für mich ist das in vielerlei Hinsicht natürlich wunderbar. Zum einen kann ich hier hautnah verfolgen, wie sich jemand bestimmte Techniken und Fähigkeiten aneignet und wie sich dadurch auch Vorlieben ausbilden, zum anderen sehe ich hier, wie man strickt, wenn man keinen Stash hat.
Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich keinen Stash hatte. Da ich ja auch eine ganze Menge Wolle auf verschiedenen Wegen geerbt habe, hat sich mein ursprünglich kleiner Stash schnell zu einem Boxiversum ausgewachsen.
Aber jetzt bin ich also wieder auf Null.
Gleichzeitig kann ich versuchen, so viele gute Ratschläge wie möglich weiterzugeben:
Nicht zu viele Projekte auf einmal.
Fäden vernähen.
Durchhalten.
Es klappt besser, als ich vorher zu hoffen wagte.
Zu den schönsten Vorweihnachtserlebnissen gehört ein Besuch im lokalen Wollgeschäft, bei dem einfach drauflos ausgesucht werden durfte, was dann dem Christkind übergeben wurde.
Daraus wurde ein wunderbares Kuscheltuch (Hinweis: Ravelry-Link), das jetzt fix und fertig im Handarbeitskorb liegt.
Das Nächste sind ein paar Socken aus dem Opalabo, das wir uns teilen. Auch das ist wunderbar, weil ich immer dachte, für eine Person sind es auf Dauer schon sehr viele Knäuel pro Jahr, vor allem, wenn man noch etwas anderes stricken will. Aber zu zweit? Bestens!
Natürlich habe ich zur Begleitung auch ein paar Socken angeschlagen. Bei mir aus Resten, nach einer Spiralsockenanleitung (GumGum Socke Hinweis: Ravelry-Link). Es sind zwar schon viele meiner Garnüberbleibsel in meine diversen Reste-Häkeldecken gewandert, aber so schnell wie man möchte, geht es eben doch nicht.
Heute habe ich eine RVO-Strickjacke begonnen, die auch - doppelfädig mit schwarz - aus Resten bestehen soll. Und da kam dann endlich die entscheidende Frage auf: "Warum strickst du immer nur aus Resten? Du hast doch so schöne Wolle."
Stimmt das wirklich?
Na, das mit der Wolle stimmt bestimmt. Nicht umsonst hat man ja diverse Wollfeste und Spezialgarnläden besucht, als dies noch ganz normal zum Terminkalender eines Strickers gehörte. Es gilt ja sowieso: für's Hobby muss man auch Geld ausgeben dürfen, sonst macht es keinen Spaß.
Aber stricke ich wirklich nur mit Resten?
Nein, nicht immer. Aber: meine Gedanken kreisen doch oft um meine Reste. Ein paar Projekte, wie den Nanaimo Cardigan (Hinweis: Ravelry-Link) oder den Baw Baw Pullover (Hinweis: Ravelry-Link) habe ich nur begonnen, um zu sehen, wie ich da Reste unterbringen kann. Wenn ich dann noch Garn dazukaufen musste, geschenkt - das war leicht zu rechtfertigen, denn ich habe ja etwas Altes verbraucht.
Oft war auch der Erfolg gar nicht so durchschlagend. So habe ich für diesen Pulli Wolle am Ärmel verstrickt, die dafür gar nicht geeignet war, trotz doppelfädiger Sockenwolle. Seit dem ersten Tag pillt sie wie verrückt.
Das heißt, jetzt geht es also ans Eingemachte. Es stimmt, mein kleiner Stricker hatte recht. Ich habe irgendwie eine Scheu, meine schönen Knäuels, meine herrlichen Stränge anzubrechen. Ich habe auch schon Projekte wieder aufgetrennt, weil ich das Gefühl hatte, sie würden der Wolle nicht gerecht, etwas passt nicht richtig, etwas sieht irgendwie nicht gut aus und vor allem bei Socken beliebt: das Garn ist zu schade. Das hebe ich mir lieber für ein "besonderes Projekt" auf.
Vielleicht weil ich aus einer Generation stamme, in der die Vokabel "auftragen" noch eine Rolle gespielt hat?
Der Wintermantel, die Sandalen, der Badeanzug sind doch noch gut in Schuss. Die kann man noch gut auftragen. Es ist nicht notwendig, in der brandneuen Sonntagsjacke beim Spaziergang durch den Wald zu traben. Da "tut es auch" die alte.
Das bedeutet beim Stricken dann auch, dass ich erst mal meine Reste "aufstricken" muss, die "tun es doch noch", bevor ich das neue, das teure, das besondere Garn anstricken darf. Was für ein alberner Zwang, der aber natürlich, so wie alle inneren Zwänge, gar nicht so einfach abgeschüttelt werden kann, wie man das rational vor sich selbst begründen kann.
Schließlich hat man ja gelernt, dass man das neue Stück Käse im Kühlschrank erst dann anschneidet, wenn das alte aufgegessen ist.
Nur, dass das beim Stricken fast nie passiert. Hier haben wir das Dilemma:
Wer kann denn ernsthaft von sich behaupten, dass er alle seine Reste verbraucht hat?
Na, ich weiß es - mein kleiner, neuer Stricker, dieses kleine Fräulein kann aus dem Vollen schöpfen, und tut das auch, sehr zu meiner Freude.
Und ich?
Ich werde jetzt mal ein Wechselmodell versuchen. Und meine kognitive Dissonanz mit folgendem Mantra zu überwinden suchen: es wächst jeden Tag Wolle nach! Wenn sie verstrickt ist, dann gibt es irgendwo wieder neue!
Mal sehen, ob's klappt.
Und bei dem neuen Kuscheltuch meiner Tochter? Ist ein kleines Mini-Knäuel übrig geblieben. Das werde ich am besten einfach diskret verschwinden lassen. Schließlich will man nicht alle seine wunderlichen Angewohnheiten weitervererben.
P.S.: Gerade habe ich gesehen - den Sockenreste-Wollpullover habe ich letztes Jahr im Januar angeschlagen. Vielleicht ist es nur ein jahreszeitlich bedingtes Formtief? Hoffen wir's.