Montag, 20. September 2021

Kapitel 166 - Von der Evolution

Einer der schönsten Nebeneffekte unseres kreativen Hobbys ist die Beobachtung der eigenen Veränderung.

Es ist ja nun kein Geheimnis, dass ich mich lange in der Sockenecke getummelt habe und von dort aus nur wenige zaghafte Ausflüge zu Mützen, Schals und Handschuhen unternommen habe. Und "lange" bedeutet wirklich lange. Wir sprechen hier von Jahren, aber eben auch von Socken in allen möglichen Formen und Farben: toe-up, top-down, Jacquard, Ajour, Zopfmuster, etc., etc.


Es hat also ganze Weile gedauert, bis ich mich an Pullis herangetraut habe. Da hat es - leider - auch nichts geholfen, dass genügend Unterstützung da gewesen wäre. Wenn man sich irgendwie nicht traut, dann klappt's eben nicht.


Die Gründe waren aber natürlich auch nicht von der Hand zu weisen:

Was ist, wenn's nicht passt?

Was ist, wenn ich es anders will?

Was ist, wenn das Garn sich nicht mehr auftrennen lässt?


Wenn man weniger Zuversicht und eben auch weniger Wissen hat, dann scheut man die Ausgaben für eine Pullovermenge durchaus. Bei einem Paar Socken, das nix wird, hat man nur ca. €10,- in den Sand gesetzt. Und nicht womöglich das Zehnfache.


Mittlerweile ist der Schritt zur Oberbekleidung bekanntermaßen vollzogen und während ich einen Pulli stricke, habe ich im Kopf schon den nächsten angeschlagen.


Soweit, so gut also. 


Natürlich ist es aber immer noch so, dass auch Pullover manchmal nichts werden. Entweder, man hat die Anleitung nicht ganz kapiert, oder die Anleitung passt nicht zur eigenen Art des Strickens oder die Anleitung und die Wolle gehen nicht zusammen.


Ein paar Änderungen traue ich mir mittlerweile selbst vorzunehmen, andere lasse ich dann eben sein. Und wie bereits schon mehrfach erwähnt: diejenigen Ungenauigkeiten, die man vom galoppierenden Pferd aus nicht sieht? Die stören mich nicht.


Und genau diese Auffassung betrifft die neue Veränderung. Es gibt offensichtlich Dinge, die doch stören. Und wie!


Gehen wir ein paar Jahre zurück, zum Hype um das Soldotna Crop. Hat jeder gestrickt, völlig klar, und damit auch ich.


Das erste Problem, die Länge, war leicht zu regeln. So viel Erfahrung war schon vorhanden, dass ich gemerkt habe, die super-cropped Länge ist nix für mich und meine Figur, da geht noch was.


Das zweite Problem, das sehr bald nach Erscheinen der Anleitung in der Strickwelt kursierte - der enge Halsausschnitt - war weniger leicht zu kurieren.


Aber man hat ja nicht umsonst verschiedene Bewältigungsstrategien zur Hand:

  1. das galoppierende Pferd (s.o.)
  2. die Verdrängung
  3. die Gewöhnung


Und genau an dieser Stelle folgt der evolutionäre Schritt, den ich zu meiner eigenen Begeisterung vollzogen zu haben scheine. Der Halsausschnitt nervt mich. Er nervt total! Also: weg damit!


Obwohl das bei einem top-down Pulli natürlich ein bisschen umständlich ist, geht es eben doch. Auftrennen, Maschen aufnehmen und mit einer höheren Maschenzahl wieder abketten. Passt.



Zurück zum ersten Problem. Auch die von mir bereits angefügten Zentimeter sind noch nicht genug, der Pulli einfach nicht lang genug. Also neu ausgemessen, Bündchen aufgemacht und Maschen wieder aufgenommen. Ich stricke jetzt bis zum Hüftknochen, basta.



Was für ein evolutionärer Schritt und vor allem: was für eine innerliche Befreiung!!! Eine Anleitung, auch die einer namhaften Designerin, ist nur ein Vorschlag. "Ich bin der Boss meines eigenen Projekts", wie Elizabeth Zimmermann ja schon immer wusste!


Mit diesem neu gewonnenen Selbstbewusstsein werde ich mich jetzt gleich an mein ältestes Nerv-Stück wagen, eine Jacke aus einem Volkshochschulkurs zum Thema 'Kleidungsstücke top-down gestrickt'.



Coole Sache, zum ersten Mal von oben im Stück gestrickt. Aber: die mit verkürzten Reihen von oben eingestrickte Armkugel war nie so, wie ich es mir gewünscht hätte. Art der Jacke, Muster, alles zu verbessern. Außerdem und extra nervig - die rechte Seite sieht anders aus als die linke. Bäh!




Nicht mehr mit mir!


Jetzt geht es mit mir und dem evolutionierten Ich direkt zurück zu den Knäueln. Und mit denen stricke ich dann die Jacke meiner Träume.


Völlig klar!


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