Montag, 3. September 2012

Krankheitsbilder

Mein schlechtes Gewissen heißt Gabi. Sie ist die Kindergärtnerin meiner Tochter und eine bewunderungswürdige Dame in jeglicher Hinsicht. In allen textilen Arbeiten versiert, bildet sie sich vor allem im Filzen ständig fort und kreiert Werke, die man nur bewundern kann. Was das Stricken betrifft, so ist sie zu meinem persönlichen Leuchtturm geworden.

Stricker leiden ja gemeinhin an verschiedenen Krankheiten, allen voran die Anfangeritis, die schon vor Jahren von der bekannten Strickerin Stephanie Pearl-McPhee in diesem Buch ausführlich beschrieben worden ist. Diese Krankheit hat einen immer dann erwischt, wenn man auf Grund der Fülle der Anleitungen und der Herrlichkeiten der Wolle gar nicht anders KANN, als mehr als ein Projekt anzuschlagen oder die gerade eben gekaufte, neue frische Wolle einfach schon einmal auszuprobieren.
Nur ein paar Reihen. Nur eine kleine Maschenprobe. Nur das Bündchen.

Kaum hatte ich davon gelesen, musste ich zugeben: ja, auch ich bin ein Opfer dieser Krankheit. Hatte eine ganze Reihe von Projekten gleichzeitig auf den Nadeln, und wollte täglich noch einige dazu anschlagen.
Auch die Tatsache, dass die Nadeln einer bestimmten Stärke inflationär verschwanden und neu gekauft werden mussten, konnten mich nicht davon abbringen. Das lag ja schließlich daran, dass ich endlich die Methode mit den zwei Rundstricknadeln für mich entdeckt hatte, und da braucht man eben pro Projekt zwei Nadeln derselben Stärke. Das macht dann schon mal 6 (oder 8 oder 10?) Nadeln Stärke 3mm Länge 60 cm. Alles im grünen Bereich.

Dann erschien in der Verena Stricken im Frühling 2010 eine Kolumne zum Thema WiPs, also der unfertigen Objekte (WiP = Work in Progress = Arbeit, die noch andauert), die in manchem Strickkorb so vor sich hin vegetieren. Die Kolumnistin empfahl, die Menge dieser Arbeiten auf 10 zu reduzieren und hatte dann eine ganze Reihe von Tipps auf Lager, wie man insgesamt mit dieser Menge umgehen sollte. Perlen des Zeit-Managements!
Jeden Tag ein anderes Projekt (7 Fortschritte pro Woche).
Jeden Tag 10 Minuten pro Projekt. (alles wächst gleichmäßig)
und einiges mehr...

Kaum hatte ich davon gelesen, begann ich zu überschlagen, wie viele Projekte ich da so auf der Nadel hatte und kam auf locker über 10. Den Wollvorrat durchwühlen und eine Liste anlegen, war eins. Endlich sollte ich wissen, wie viele es denn nun WIRKLICH sind. Um mich zu beruhigen und gegen den Schock zu wappnen, hab ich gleich noch ein paar Socken angeschlagen. Nur ganz einfache Rippen, die zählen ja fast gar nicht.
Na bitte, alles halb so wild. Nur ein paar Pullis für meine Mädels (mit Zwillingen kommt man da schnell auf eine beachtliche Zahl, aber der zweite geht ja eh viel schneller), Mützen und passende Handschuhe. Kein Problem.

Dann sind da noch so schlafende Hunde, wie z.B. ein paar Herrensocken, die noch auf ein kleines Stickbild auf dem zweiten Socken warten. Die sind ja EIGENTLICH schon fertig! Die zählen ja gar nicht mit!




Außerdem ist es doch amüsant, zu lesen, dass andere Leute ähnliche Probleme haben. Ich bin eben ein ganz normales Mitglied der internationalen Strickgemeinde (wenn das kein Titel ist!).

Tja, und dann hab ich mit besagter Gabi, Handarbeitsexpertin und Strickvorbild ein Gespräch geführt. Ganz zufällig, zwischen Tür und Angel, beim Abholen der Kinder. Ich hab noch einen Witz gemacht über meine vielen Projekte, die ich so nebenbei zu Hause anhäufe.
Tja, und dann hat sie den entscheidenden Satz gesagt:
"Also ich stricke immer erst ein Projekt fertig, bevor ich ein neues beginne, das habe ich immer so gehalten!"

Da stand ich. Wurde rot wie eine Schülerin und wusste gar keine richtige Antwort zu geben. Was für ein Disziplinwunder.

Seitdem begleitet mich dieser Satz immer dann, wenn ich in Versuchung bin, etwas Neues anzuschlagen. Ich überlege dann: Gibt es nicht etwas, was ich stattdessen beenden könnte? Irgendetwas? Woran scheitert es, dass ich nicht weiter komme? Wie komme um die Klippe herum?

Natürlich bin ich nicht ganz so ehrlich und für jedes WiP, das ich von dieser Liste streiche, schlage ich ein neues an: 



Aber: ich führe diese Liste und versuche sie auch regelmäßig zu aktualisieren.

Tatsache ist, dass Gabi dafür gesorgt hat, dass ich zeitweilig von einer anderen, einer viel selteneren Strickkrankheit befallen worden bin, der 'Beenderitis', ebenfalls beschrieben in oben genanntem Buch. Eine Krankheit, die so manch einer gerne hätte und die dazu führt, dass sich die fertigen Objekte plötzlich auf wundersame Weise vermehren.

Dies ist die einzige Krankheit, die ich guten Gewissens empfehlen kann.


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